Verlegung von Stolpersteinen für jüdische Bürger in Oberbrechen

Mit der Verlegung von sieben Stolpersteinen durch Gunter Demnig am Freitag, dem 15. Mai 2015 in der Lange Straße 2 und Langestraße 14 reiht sich Oberbrechen ein in ein Geflecht von rund 1.200 Städten und Gemeinden in Deutschland und 18 weiteren europäischen Ländern, in denen bisher über 50.000 Stolpersteine des Kölner Künstlers Gunter Demnig verlegt wurden. Mit diesen, in den 1990er Jahren begonnenen Projekt wird an das Schicksal der Menschen erinnert, die im 3. Reich durch die Nationalsozialisten verfolgt, vertrieben, deportiert, ermordet oder in den Selbstmord getrieben wurden.
Der Künstler Gunter Demnig, 1947 in Berlin geboren, studierte Kunst und Kunstpädagogik in Berlin und Kassel und war anschließend mehrere Jahre im Bereich der Denkmalsanierung tätig. Von 1980 bis 1985 war er künstlerisch-wissenschaftlicher Mitarbeiter im Fachbereich Kunst der Universität Kassel. Bereits 1993 entwickelte er die Idee der Stolpersteine, zwischen 1995 und 1997 erfolgten die ersten Verlegungen in Berlin und Köln sowie in der Nähe von Salzburg.

Die Stolpersteine sind quaderförmige Betonsteine mit einer an der Oberseite befestigten, zehn Mal zehn Zentimeter großen Messingplatte, die den Namen und die wichtigsten Lebensdaten des Opfers trägt. Sie werden i.d.R. vor dem letzten selbst gewählten Wohnhaus der NS-Opfer durch Gunter Demning in den Bürgersteig eingelassen.

Mit seinem Projekt der Stolpersteine will Demnig den NS-Opfern ihre Namen zurückgeben und die Namen an die Orte ihres Lebens bringen. Das sich Bücken, um den Text der Stolpersteine lesen zu können, betrachtet er als eine symbolische Verbeugung vor den Opfern.

 

Zum Leben und Schicksal der sieben Personen, zu denen ein Stolperstein verlegt wird

Siegfried Stern

Siegfried Stern wird am 25.10.1879 in Oberbrechen als viertes von sechs Kindern des Ehepaares Samuel und Isabella Stern (geb. Frank) geboren. Wie sein Vater wird er Kaufmann. Im 1. Weltkrieg wird er wegen besonderer Tapferkeit ausgezeichnet. Mit seiner Frau Sophie, geborene Frank hat er zwei Kinder: Kurt Stern und Ilse Stern.

Am 10.11.1938 (am Tag nach der „Reichskristallnacht“) wird er zusammen mit Max Altmann, dem Vorsteher der jüdischen Gemeinde Weyer, von Beamten der Frankfurter Gestapo verhaftet und nach Frankfurt gebracht. Von dort wird er in das Konzentrationslager Buchenwald eingeliefert und am 12.12.1938 wieder entlassen.

Laut Abmeldebuch Oberbrechen wird Siegfried Stern am 25.02.1942 zusammen mit seiner Frau Sophie und seiner Schwester Jette nach Frankfurt/Main zwangsevakuiert. Das Ehepaar wohnt dort in der Gagernstraße bzw. Schickhausstraße und wird am 20.06.1942 in ein Konzentrationslager im Osten deportiert und vermutlich im gleichen Jahr in der Gaskammer ermordet.
Am 16.06.1952 wird Siegfried Stern auf Antrag seines in New York lebenden Sohnes Kurt Stern vom Amtsgericht Frankfurt für tot erklärt.

Sophie Stern geb. Frank

Sophie Frank wird am 27.09.1889 in Nieder-Ohmen (Vogelsberg) als Tochter des Vieh- und Manufakturwarenhändler Simon Frank und seiner Frau Paulina (geb. Moses) geboren. Mit ihrem Mann Siegfried Stern hat sie zwei Kinder: Kurt Stern und Ilse Stern.

Laut Abmeldebuch Oberbrechen wird Sophie Stern am 25.02.1942 zusammen mit ihrem Mann Siegfried und ihrer Schwägerin Jette nach Frankfurt/Main zwangsevakuiert. Das Ehepaar wohnt dort in der Gagernstraße bzw. Schickhausstraße und wird am 20.06.1942 in ein Konzentrationslager im Osten deportiert und vermutlich im gleichen Jahr in der Gaskammer ermordet.
Am 16.06.1952 wird Sophie Stern auf Antrag ihres in New York lebenden Sohnes Kurt Stern vom Amtsgericht Frankfurt für tot erklärt.

Kurt Stern

Kurt Stern wird am 21.05.1913 in Oberbrechen als Sohn des Ehepaares Siegfried und Sophie Stern geboren. 1918 wird er eingeschult. Den zunehmenden Repressalien des 3. Reiches entzieht er sich durch eine Auswanderung in die USA.

Im Abmeldebuch von Oberbrechen ist unter der Abmelde-Nr. 1936/147 als Abmeldedatum der 22.10.1936 und als Zielort „New York“ notiert, dazu der Zusatz „abgemeldet am 12.11.1936 durch Vater mündlich“. Er lebte in New York und ist am 15.01.1986 gestorben.

Ilse Isabella Stern

Ilse Stern wird am 18.08.1921 in Oberbrechen als Tochter des Ehepaares Siegfried und Sophie Stern geboren. 1927 wird sie eingeschult. 1936 und 1938 ist sie kurzeitig nach Frankfurt abgemeldet. Den zunehmenden Repressalien des Nationalsozialismus entzieht sie sich durch eine Auswanderung in die USA.

Im Abmeldebuch von Oberbrechen ist unter der Abmelde-Nr. 1939/3 als Abmeldedatum der 22.02.1939 und als Zielort „Nordamerika“ notiert. Hier heiratet sie den aus Bad Hersfeld stammenden Max A. Nussbaum. Das Ehepaar lebte in New York und hatte ein Kind. Ilse Stern ist am 20.08.1989 in New York gestorben.

Jette Stern

Jette Stern wird am 20.08.1873 in Oberbrechen als ältestes von sechs Kindern des Ehepaares Samuel und Isabella Stern (geb. Frank) geboren. 1879 wird sie eingeschult.

Laut Abmeldebuch Oberbrechen wird Sophie Stern am 25.02.1942 zusammen mit ihrem Bruder Siegfried und ihrer Schwägerin Sophie nach Frankfurt/Main zwangsevakuiert. Sie wohnt dort in der Gagernstraße bzw. Schickhausstraße. Am 20.06.1942 wird sie nach Theresienstadt deportiert und von dort am 29.09.1942 ins Vernichtungslager Maly Trostinec, wo sie ermordet wird.
Neben ihrem aus Oberbrechen deportierten und ermordeten Bruder Siegfried werden auch ihre beiden anderen Brüder Joseph und Alfred von den Nationalsozialisten ermordet, ebenso der in Oberbrechen geborene Max Stern, Sohn ihres Cousins Isaak Stern.

Moses Stern

Moses Stern wird am 26.02.1872 in Oberbrechen als ältestes von acht Kindern des Ehepaares Samuel Löb und Mienchen Stern (geb. Strauß) geboren.
Nach der Schulentlassung 1886 heuert er auf einem Überseedampfer an und lernt als Matrose auf verschiedenen Passagier- und Handelsschiffen viele Länder kennen. Kurz vor oder einige Jahre nach dem 1. Weltkrieg kehrt er nach Oberbrechen zurück und lässt sich als Metzger, Schächter, Vieh- und Fellhändler in seinem Elternhaus nieder.

Nach dem Tod seiner Mutter führt ihm seine Schwester Dora von 1928-1934 den Haushalt. Auf eine Auswanderung hingewiesen, antwortet er „Ich habe doch nichts falsches getan, dann wird man mich auch nicht abholen!“. Er betrachtet Deutschland als seine Heimat und lehnt die von seinem Bruder Hermann Stern ermöglichte Auswanderung in die USA ab.

Laut Abmeldebuch Oberbrechen wird Moses Stern am 26.09.1940 nach Frankfurt/Main zwangsevakuiert. Er wohnt dort in der Gagernstraße bzw. Schickhausstraße und wird am 20.06.1942 nach Theresienstadt deportiert und dort 09.10.1942 ermordet.

Dora Stern

Dora Stern wird am 11.02.1883 in Oberbrechen als viertes von acht Kindern des Ehepaares Samuel Löb und Mienchen Stern (geb. Strauß) geboren. 1889 wird sie eingeschult. Nach dem Tod ihrer Mutter führt sie ab 1928 den Haushalt ihres Bruders Moses.

Im Sterberegister des Standesamtes Oberbrechen ist vermerkt: „Am 14. 8.1934 in ihrer Wohnung tot aufgefunden durch Kaufmann Max Altmann, der auch den Tod anzeigte.“

Es ist davon auszugehen, dass sie sich dem beginnenden Terror des Nationalsozialismus durch den Freitod entzog, was durch einen Brief ihrer Nichte aus dem Jahre 1997 belegt wird. Neben ihrem aus Oberbrechen deportierten Bruder Moses Stern wird auch ihr Bruder Julius Stern und dessen Sohn Ludwig Stern von den Nazis ermordet.

Die Familie Stern aus Oberbrechen

Die Vorfahren der Familie Stern in Oberbrechen können auf Samuel Jessel (*zw. 1759 und 1769; +?) zurückgeführt werden, aus dessen Ehe mit Jettchen geb. Joseph zwei in Oberbrechen geborene Kinder stammen: Der 1799 geborene Seligmann Samuel (der 1841 den Nachnamen Stern annimmt) und der 1807 geborene Gumbrich Samuel (ebenfalls ab 1841 mit Nachnamen Stern).

Seligmann Stern hatte vier Kinder: Judith (*1829-?), Abraham (1831-1867), Samuel (1842-1904) und Julius (*1851-?).
Samuel Stern kauft 1876 in der Lange Straße 2 das Anwesen von Peter Anton Schmitt und baut dort nach einem Brand 1880 ein zweistöckiges Wohnhaus für seine achtköpfige Familie; von seinen sechs Kindern werden vier in den Konzentrationslagern der Nazis ermordet werden:

Jette Stern (*1873; +Herbst 1942 im KZ Maly Trostinec)
Siegfried Stern (*1879; +nach dem 20.06.1942 in einem KZ in Polen)
Joseph Stern (*1881; +1943 in einem KZ in Polen)
Alfred Stern (*1884; +1942/43 im KZ Auschwitz)

Samuel Sterns Bruder Abraham hatte drei Kinder:
Siegmund (1864-1930), Isaak (1865-1930) und Abraham (1867-1868). Von Siegmund Sterns sechs Kinder wandern fünf aufgrund wirtschaftlicher Gründe in den 1920er Jahre bzw. aufgrund der antisemitischen Stimmung in den 1930er Jahren in die USA aus. Von den vier Kindern seines Bruders Isaak Stern fällt der älteste Sohn im 1. Weltkrieg, wandern die beiden Töchter mit ihren Ehemännern in die USA aus und wird Max Stern (*1900) 1945 im KZ Buchenwald ermordet.

Der zweite Sohn des „Stammvaters“ der Sterns in Oberbrechen, Gumbrich Stern, hinterlässt einen Sohn: Samuel Löb Stern (1842-1919), der für seine zehnköpfige Familie ein Wohnhaus in der Lange Straße 14 erwirbt. Von seinen acht Kindern wandern vier in die USA aus, zwei werden von den Nazis in Konzentrationslagern ermordet, eine Tochter begeht 1934 Selbstmord:

Moses Stern (*1872; +09.10.1942 im KZ Theresienstadt)
Julius Stern (*1877 in OB; +nach 1942 in einem KZ in Polen)
Dora Stern (*1883; +1934 Freitod)

Der jüngste Sohn, Hermann Stern (1887-1980) wandert bereits mit sechszehn Jahren in die USA aus und wird dort ein einflussreicher Unternehmer. Während des 3. Reiches ermöglicht er über 100 jüdischen Familien die Einreise in die USA, indem er ihnen die vorgeschriebenen Garantien stellt und sie so vor dem sicheren Tod rettet (u.a. viele seiner Verwandten).

Während zwei der drei Kinder von Julius Stern die Flucht aus Nazi-Deutschland in die USA rechtzeitig gelingt, wird sein Sohn Ludwig (*1907 in Montabaur) im September 1942 in Auschwitz ermordet.

Juden in Oberbrechen

1903 lebten in Oberbrechen 32 jüdische Bürger. Durch Heirat, aber auch durch wirtschaftliche Not zogen viele der Jüngeren von ihrem Geburtsort weg, so dass 1927 noch 22 und 1932 nur noch 18 jüdische Bürger in Oberbrechen registriert sind. Mit Beginn des 3. Reiches und der einsetzenden Judenverfolgung verschärft sich die Situation und weitere jüdische Bürger verlassen nicht nur Oberbrechen, sondern wandern in die sichere USA aus – oftmals mit der Unterstützung des in Oberbrechen geborenen und schon früh in die USA ausgewanderten Herrmann Stern. 1940 sind noch vier jüdische Bürger in Oberbrechen registriert, die zunächst nach Frankfurt zwangsevakuiert und von dort in den Konzentrationslagern deportiert und ermordet werden.

Insgesamt fallen zwölf der in Oberbrechen geborenen bzw. längere Zeit dort wohnenden jüdischen Bürger dem Naziterror zum Opfer:
Neben den bereits oben erwähnten Mitgliedern der Familie Stern werden 1942 auch Mathilde Blumenthal (geb. Kahn), Ehefrau von Hermann Blumenthal, sowie ihre beiden in Oberbrechen geborenen Söhne Richard (* 1902) und Manfred (* 1923) Blumenthal in ein Konzentrationslager deportiert und dort ermordet. Die Familie Blumenthal war 1927 nach Wiesbaden-Erbenheim umgezogen.
Ihr Haus und Geschäft in der Frankfurter Straße 17 erwarb der in Münster geborene und in Schmitten wohnende Siegfried Lichtenstein mit seiner Familie. Siegfried Lichtenstein sieht sich 1937 aufgrund der Judenverfolgung gezwungen, mit seiner Frau Flora und seinen beiden Kindern Kurt und Irene nach Argentinien auszuwandern.

 

Diese Informationen (und die einer Ausstellung, die zur Zeit im Heimatmuseum ausgestellt ist) sind in erster Linie den grundlegenden Forschungen und Recherchen von Eugen Caspary entnommen. Das Gemeindearchiv ist ihm für diese Arbeit zu großem Dank verpflichtet.

Wer sich ausführlicher mit dem Thema „Geschichte der jüdischen Bürger in Oberbrechen“ beschäftigen möchte, sei auf folgende Quellen hingewiesen:

  • Eugen Caspary: „Jüdische Mitbürger in Oberbrechen 1711-1941. Eine Bestandsaufnahme.“ in Gensicke/Eichhorn „Geschichte von Oberbrechen.“; Hrsg. im Auftrag der Gemeinde Brechen, 1975; S. 157-231.
  • Eugen Caspary: „Jüdische Bürger in Oberbrechen während der Weimarer Republik und in der nationalsozialistischen Diktatur.“ in Hessische Blätter für Volks- und Kulturforschung. Neue Folge der Hessischen Blätter für Volkskunde, Bd. 9. Judaica Hassiaca: Hrsg. von der Hessischen Vereinigung für Volkskunde durch Alfred Hock (Sonderdruck); Gießen: Wilhelm Schmitz Verlag in Gießen, 1979.
  • Eugen Caspary: „Die Juden in den Kreisen Limburg und Oberlahn 1278-1945. Versuch einer Bestandsaufnahme.“ in „Limburg-Weilburg. Beiträge zur Geschichte des Kreises.“ Hrsg. vom Kreisausschuss des Landkreises Limburg-Weilburg, …, 1986; S.126-173.
  • Juden im Kreis Limburg-Weilburg. Schicksale und Ereignisse. Schriftenreihe zur Geschichte und Kultur des Kreises Limburg-Weilburg, Bd. 3; Hrsg. vom Kreisausschuss des Landkreises Limburg-Weilburg, …, 1991.
  • Das Gebinde des Lebens. Die jüdischen Kultusgemeinden Weyer und Münster in Hessen. Vom 17. Jahrhundert bis zu ihrer Vernichtung 1940. Hrsg. von Christa Pullmann und Eugen Caspary, 2004.